Archive for Juli, 2012

"Titanic" contra Papst: Historischer Streit?


27 Jul

Die juristische Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit dem in Frankfurt/Main erscheinenden Satireblatt “Titanic” verleitet die Redaktion von Spiegel Online zu schon fast historischen Phantasmagorien. Was stellen nämlich die Hamburger Redakteure fest:

Der Papst fühlte sich durch das Titelbild in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt und erwirkte eine einstweilige Verfügung. Es war das erste Mal, dass ein Papst juristisch gegen die "Titanic" vorging.

Das erste Mal, dass ein Papst gegen “Titanic” vorgeht? Kein Wunder, das Magazin wurde 1979 gegründet. Seit diesem Zeitpunkt gab es genau zwei Päpste, nämlich Johannes Paul II. und den jetzigen Amtsträger. Spiegel Online hätte genauso formulieren können: “Das erste Mal in der 2000-jährigen Geschichte der katholischen Kirche geht ein Papst gegen eine deutsche Satirezeitung vor”. Das wäre bestimmt auch richtig. Auf diese Weise geht ein kleines deutsches Magazin noch in die Kirchengeschichte ein.

"Titanic"-Titelbild: Papst mit Kussmündern auf der Soutane – SPIEGEL ONLINE

ZDF: Alle sehen das Hakenkreuz, nur „Aspekte“ nicht


23 Jul

Der russische Opernsänger Evgeny Nikitin darf wegen eines Fernsehbeitrags im ZDF-Kulturmagazin „Aspekte“ nicht den „fliegenden Holländer“ bei den Bayreuther Richard-Wagner-Festspielen singen. In dem Film waren Archivbilder zu sehen, die ihn mit nacktem Oberkörper als Schlagzeuger einer russischen Punkband zeigen. Die rechte Brust bedeckt dabei ein gigantisches, mit Ornamenten versehenes Hakenkreuz.

Foto: Screenshot

Ein gigantisches Hakenkreuz? So groß war es wohl nicht, denn die Aspekte-Reporter vom ZDF haben es offenbar nicht als solches wahrgenommen. So wird in dem folgenden Interviewausschnitt Sänger Nikitin zwar auf seine Tatoos allgemein angesprochen, nicht aber aufs Hakenkreuz.

Das tätowierte Hakenkreuz hat Nikitin mittlerweile längst mit einem anderen Motiv überstechen lassen und als „Jugendsünde“ bezeichnet — in dem ZDF-Beitrag spricht er allerdings noch von „guten verrückten Sachen“. Ob es sich dennoch um ein Mal handelt, das für die Bayreuther Festspielveranstalter eher ein Schand- als ein Mahnmal darstellt und dessentwegen der Sänger von der Bühne verbannt gehört, muss man wohl auf dem Grünen Hügel selbst entscheiden. Dass gerade in Jugendsubkulturen wie dem Punk das Hakenkreuz als provozierendes Symbol diente, das gerade nicht als rechtsextremistische Äußerung verstanden werden durfte, davon spricht immerhin ein FAZ-Artikel:

Dass Punk-Ikonen wie Siouxsie von der Band „Siouxsie and the Banshees“ oder Sid Vicious eine Zeitlang Hakenkreuz-Armbinden trugen, bedeutete nicht, dass sie sich Rechtsextremismus oder gar die Ideologie der Nazis auf die Fahnen geschrieben hatten. Nein, das Hakenkreuz war einfach als naive Provokation gedacht. Wichtig war der Effekt, den es auf brave Bürger hatte. Das Hakenkreuz verbreitete Angst und Abscheu, und genau darauf hatte man es abgesehen.

Selbst als Statement, das nur um der Provokation willen getan wird, ist ein Hakenkreuz ziemlich dämlich und spricht für die anzunehmende Naivität der Provokateure. Naivität darf man aber auch den ZDF-Journalisten unterstellen. Nicht nur, dass der Aspekte-Beitrag auch handwerklich schlecht gemacht ist: Wenn Nikitin davon spricht, dass man als Rockmusiker ohne Tatoos einfach nicht „serious“ sei, meint er damit nicht „seriös“, wie das ZDF übersetzt, sondern „nicht ernstzunehmen“. In seiner Bilderarmut, die in Ermangelung von Probenbildern aus dem Festspielhaus tatsächlich ärmlich daher kommt und nichtssagende Bilder eines durchs triste Bayreuth spazierenden Opernsängers mit Kauzenpulli präsentiert, ist der Film so banal, dass es schon verwundert, wie Kulturjournalisten gerade jener Nachfrage entsagten, die ihren Beitrag zum „scoop“ hätte machen können. So bleibt, dass „aspekte“ irgendwie für große Aufregung gesorgt hat, ohne dass das Kulturmagazin es selbst so richtig mitbekommen hätte.

Kölner Stadt-Anzeiger sieht älter aus als angenommen


23 Jul

Charlemagne_denier_Mayence_812Historiker des Kölner Stadtanzeigers haben in den Untiefen ihres Zeitungsarchivs gegraben und zwischen den längst versteinerten Überresten der “Kölnischen Zeitung” sensationelle Funde zur Regionalgeschichte des Rheinlands entdeckt:

Die Aachener Stadtgeschichte muss wohl neu geschrieben werden. Denn lange vor Karl dem Großen, viel länger als bisher angenommen, kamen die Menschen schon hierher.

Die Formulierung deutet in all ihrem Unglück darauf hin, dass die Aachener Stadtgeschichte mit Karl dem Großen (Kaiserkrönung im Jahr 800 n.Chr.) begönne. Allerdings haben, wie weiter unten im Artikel auch ganz richtig vermerkt wird, schon die Römer um die Zeitenwende in Aachen gesiedelt (und ihr ihren Namen gegeben).

Aber auch, was als eigentliche Sensation in dem Artikel verkauft wird, ist bei näherem Hinsehen keine solche: Dass schon in der Jungsteinzeit auf dem Gebiet des heutigen Aachen gesiedelt wurde, ist, wie schon im entsprechenden Wikipedia-Artikel nachzulesen ist, keine große Neuigkeit. Worin dann überhaupt der Nachrichtenwert dieses von dpa gelieferten Artikels besteht, bleibt unklar.

Stadtgeschichte: Aachen ist älter als angenommen | Kultur – Kölner Stadt-Anzeiger

Rechenfehler bei Meedia: GEZ kleingerechnet


11 Jul
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Foto: Sigrid Rossmann/Pixelio

Schwer zu verstehen ist diese Meldung zum Thema Rundfunkgebühren, die im Branchendienst Meedia zu lesen ist:

Gebühreneinbruch bei der GEZ: Wie der Focus in seiner aktuellen Ausgabe berichtet, wurden 2011 lediglich noch 25,8 Millionen Euro an Zwangsbeiträgen für die öffentlich-rechtlichen Programme eingetrieben – ein Minus von 5,5 Millionen Euro gegenüber dem Vorjahr. Das Magazin beruft sich auf eine interne Statistik des Südwestrundfunks.

Diese Angaben, egal ob sie nun vom Focus stammen oder ob bei Meedia jemand etwas nicht richtig verstanden hat, halten auch der oberflächlichsten Plausibilitätskontrolle nicht stand. Die GEZ hat allein im vergangenen Jahr 2011, wie bei Statista.de und vielen anderen Quellen aufs leichteste zu recherchieren ist, mehr als 7 Milliarden Euro eingenommen. die von Meedia/Focus genannten Zahlen sind so grenzenlos weit davon entfernt, dass die Fehlerquelle kaum zu identifizieren ist. Oder handelt es sich hier schon um ein Stück automatisierten Journalismus, der nicht mehr von Redakteuren, sondern von Computerprogrammen selbsttätig fabriziert wurde? Gerade mit Plausibiliät haben Computerprogramme ja so ihre Probleme.

Aber auch die vielzitierten Vorteile des Onlinejournalismus zur Qualitätskontrolle werden vom Onlinemagazin Meedia nicht wahrgenommen: Mehrere Kommentare weisen auf die offensichtliche FAlschheit der Zahlenangaben hin, ohne dass das offenbar jemanden in der Meedia-Redaktion interessiert. Schade.

Meedia: GEZ treibt weniger Gebühren ein

Vernachlässigte Themen in der deutschen Presse


06 Jul

Die „Initiative Nachrichtenaufklärung“, deren Jury ich anzugehören die Ehre hatte, hat auch für das Jahr 2011/12 wieder 10 Themen gekürt, die von hoher gesellschaftlicher Relevanz sind und doch in den deutschen Medien so gut wie nicht vorkamen:

1. Keine Rente für arbeitende Gefangene
2. HIV-Positive auf dem Arbeitsmarkt werden nicht vor Diskriminierung geschützt
3. Die Antibaby-Pille als gefährliches Lifestyle-Medikament
4. Weiterbildung zum Hungerlohn
5. Hartz IV bei Krankheit
6. Vergessene Zivilprozesse
7. Gekaufte Kundenbewertungen im Internet
8. Miserable Zustände in europäischen Haftanstalten
9. Die undurchsichtige Industrie humanitärer Hilfe
10. Betrugsanfälligkeit von Drogentests

Mehr Informationen und in Bälde auch die ausführlichen Rechercheprotokolle gibt es auf der Website der Initiative Nachrichtenaufklärung.

Higgs und das „Gottverdammich-Teilchen“


05 Jul

Das CERN bei Genf, Foto: Florian Hirzinger

Wer in diesen Tagen in der Presserecherche bei Google News (oder anderen Pressediensten) das Wörtchen „Gottesteilchen“ eingibt, erhält über 13.000 Suchtreffer. Denn am europäischen Teilchenbeschleuniger CERN scheint eine wissenschaftliche Sensation geschehen und das bislang nur theoretisch postulierte sog. Higgs Boson nachgewiesen worden zu sein. Und dieses Elementarteilchen wird eben gerne auch als „Gottesteilchen“ bezeichnet.

Doch woher kommt diese Bezeichnung? Viele Physiker sind mit der Benennung gar nicht glücklich, weil ihrer Meinung nach Physik mit „Gott“ prinzipiell nichts zu tun hat. So schreibt Florian Freistetter  in seinem Scienceblog:

Damit das klar ist: Das Higgs-Boson hat nichts mit Gott zu tun. Es ist ein Elementarteilchen. Teilchenphysik hat nichts mit Gott zu tun. Kein Wissenschaftler nennt das Objekt „Gottesteilchen“. Der Begriff stammt vom Titel eines Buch des Nobelpreisträgers Leon Lederman, der über Teilchenphysik und das Higgs-Boson schrieb. (…) Der Titel „The God Particle“ wurde vom Verleger ausgewählt (Lederman hätte es lieber „The Goddamned Particle“ genannt).

Nun ist Leon Lederman allerdings auch nicht niemand, sondern ein sogar hochgeehrter Wissenschaftler und Nobelpreisträger. Dennoch sollten JournalistInnen sich seine Anregung vielleicht zu Herzen nehmen und künftig vom „Gottverdammich-Teilchen“ sprechen.

Hicks statt Higgs: Focus hat Physik-Schluckauf


04 Jul

Screenshot Focus Online

Am europäischen Teilchenbeschleuniger CERN in Genf stehen offenbar große Neuigkeiten unmittelbar vor ihrer Veröffentlichung: Der experimentelle Nachweis des sog. Higgs-Teilchens, das auch als „Gottesteilchen“ bezeichnet wird und bislang nur ein theoretisches Postulat war. Die Redaktion von Focus Online hat die Higgs-Mitteilung scheinbar so in Aufregung versetzt, dass sie selbst hicksen musste und einen Schluckauf bekam. In der wissenschaftlich nicht ganz haltbaren Fassung der Onlinejournalisten heißt es:

Die Entdeckung des Higgs-Bosons wäre „eine der größten Entdeckungen“ der Physik. Das Cern-Forschungszentrum hat kurz vor der Stellungnahme zu jenem Elementarteilchen versehentlich ein Video ins Netz gestellt. Es soll das Gottesteilchen zeigen.

Hier wurde offenbar die Papparazzi-Mentalität von Teilen des Journalismus auf die Teilchenphysik übertragen: Man muss nur lange genug auf der Lauer liegen, dann bekommt man auch sein Foto. Mit dem Gottesteilchen verhält es sich indes wie mit dem lieben Herrgott persönlich: Auf Foto wurde er bislang noch nicht gebannt, und das wird wohl auch in Zukunft nicht gelingen. Hicks statt Higgs.

Falschmeldungen bei CNN und Fox


02 Jul

dpa-Chef Wolfgang Büchner verkündete es für seine Nachrichtenagentur ultimativ: „Richtigkeit geht vor Schnelligkeit“. Und das, nachdem die dpa selbst einer veritablen Presse-Ente Flügel verliehen hatte, und das nicht zum ersten Mal. Nun hat es zwei US-amerikanische Nachrichtenkanäle erwischt, nämlich CNN und Fox. Beide hatten nach dem richtungweisenden Urteil des supreme court in Washington über die Krankenversicherungspläne Präsident Obamas fälschlich behauptet, das oberste amerikanische Gericht habe sich mehrheitlich gegen die Pläne ausgesprochen. Doch das Gegenteil war der Fall.

Screenshot CNN

Vor allem in den sozialen Netzen ernteten die Nachrichtenkanäle, besonders CNN, viel Häme. Auf Twitter schrieb ein Nutzer mit Namen „lindasusan“ gar von einem historischen Ereignis: CNN habe gerade das „Dewey besiegt Truman“ der Twitter-Generation geliefert. „Dewey Defeats Truman“ ist eine der berühmtesten Zeitungs-Enten der Pressegeschichte. Die Chicago Tribune hatte nach den US-Präsidentschaftswahlen auf ihrer Titelseite vom 3. November 1948 gemeldet, dass Herausforderer Thomas E. Dewey den Amtsinhaber Truman besiegt habe. Das Gegenteil war der Fall.

Anti-Medien-Blog

Die journalistische Notfallpraxis im Web von Hektor Haarkötter