Archive for Juni, 2011

Bekenntnisse: So funktioniert Sensationsjournalismus


29 Jun

Wer Einblicke in die Welt des Sensationsjournalismus gewinnen und einen echten Paparazzo im O-Ton vernehmen möchte, der kann auf der „Eines Tages“-Seite von Spiegel Online die Bekenntnisse des ehemaligen Quick-Fotografen Hanno Krusken studieren. Und die beginnen direkt mit einem freimütigen Geständnis:

Der Job eines Pressefotografen ist dem einer Prostituierten ziemlich ähnlich. Jeder der kommt und bezahlt, wird bedient. Und gerade wenn man als Fotograf versucht, im Journalismus Fuß zu fassen, macht man fast alles. (…) Der Job eines Fotoreporters war noch echtes Handwerk. Und dazu gehörte auch, im Dreck zu wühlen.

Krusken erzählt, dem Erzählgestus seines ehemaligen Auftrag- und Arbeitgebers offensichtlich nach wie vor verbunden, allerhand Räuberpistolen: Wie er die Eltern eines angeblichen „Wolfsjungen“ zu Fotos überredete („…brachte die beiden, wie von der Redaktion geheißen, in ein Hotel, um sie dem Zugriff anderer Journalistenkollegen zu entziehen“); wie er Luftaufnahmen vom Gladbecker Geiseldrama machte und damit die Polizeitaktik verriet; oder wie er, freimütig seine kriminelle Energie gestehend, illegal Kameras in einen Gerichtssaal schleuste:

Bei einer Sicherheitsfirma kaufte ich eine sogenannte Feuerzeugkamera. Die wollte ich durch die Kontrolle schmuggeln. Alternativ hatte ich mehrere Einwegkameras besorgt. Am Tag vor der Verhandlung, als der Gerichtssaal leer fotografiert werden durfte, heftete ich sie mit Doppelklebeband unter verschiedene Sitze, auf denen dann meine Textkollegen Platz nehmen sollten.
Tatsächlich kam ich tags darauf aber problemlos mit einer Zigarettenschachtel und dem falschen Feuerzeug in der Brusttasche durch die Sicherheitsschleuse. Während einer Verhandlungspause, in der die Angeklagten im Gerichtssaal bleiben durften, schnippte ich mehrmals im Vorbeigehen, so als könnte ich es nicht erwarten, mir eine Zigarette anzuzünden.

 Auch die Kommentarseiten zu dem Artikel sind aufschlussreich. So schreibt ein Holger Kreymeier:

Als ehemaliger Redakteur beim Boulevard-Fernsehen kann ich das Geschriebene nur bestätigen – menschliche Schicksale werden wir eine Beute betrachtet, die man früher als andere einfangen muss. Und wenn die Story nicht so aufregend ist, dann erfindet man einfach was dazu. So hat man damals gearbeitet – und so arbeitet man heute. Die Protagonisten und deren Probleme sind nur so lange interessant bis man seine Story im Kasten hat.

Und eine Claudia Freistein kommentiert lakonisch:

Einfach nur ekelhaft – wie kann man sich nur zu so einem Job hingeben? Sein Tun mit der Arbeit von Prostituierten zu vergleichen ist eine Beleidigung von Prostituierten.

Dass der Spiegel vom dargestellten Sensationsjournalismus nicht immer ganz meilenweit entfernt ist, zeigt nicht nur der sensationalistische Ton des Beitrags selbst („Geiselnehmer, Wolfsjungen, Mordopfer – Fotograf Hanno Krusken besorgte für „Quick“ die Bilder, die andere nicht hatten“). Auch, was Spiegel Online unter „verwandte Themen“ aufführt, macht deutlich, womit hier die Klickzahlen des eigenen Internetangebots in die Höhe getrieben werden sollen:

Screenshot: Spiegel Online

Huren und Helden, Blut und Sex, Busen und Pos: Das scheint auch für den Spiegel nicht nur zum Grenzbereich des Journalismus zu gehören. Triebhaftigkeit als Treibmittel für Klickzahlen — da spiegelt der Spiegel exakt das Thema, das Fotograf Krusken zuvor präludiert hat. „The medium is the message“, würde Marshall McLuhan da sagen.

Stilkritik: Die Süddeutsche als Quality Paper


28 Jun

“Quality paper”, das ist in der Medienwissenschaft der noble, sprich: denglische Ausdruck für “Qualitätszeitung”. Konterpart dazu ist “popular paper”, was deutlich eleganter klingt als Boulevardpresse, Klatschzeitung oder Gossenblatt. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Münchner “Süddeutsche Zeitung” ein solches “quality paper” ist, dann wäre dieser Artikel unter der Überschrift “Stilkritik” über die Beinkleidung eines ehemaligen Spitzensportlers sicherlich dazu angetan:

So tollkühn er im Tor war, so mutig ist Oliver Kahn in Sachen Mode: Souverän trägt er sein weißes Beinkleid zur Schau, obwohl Selbiges um das Ex-Sportler-Bäuchlein spannt – und so eine helle Hose ja auch gelegentlich mal den Blick freigibt auf das Darunter. Unerschütterlich, der Titan!

Der Blick auf die Gesellschaft, die kritische Einstellung gegenüber den Mächtigen, überhaupt die Gatekeeper-Funktion der Presse, all das verbunden mit profunder Recherche und verpackt in ein Deutsch, das die Eleganzgrenzen nach oben erweitert, das macht der Süddeutschen so schnell keiner nach:

Dummerweise scheint stets die Unterhose durch den dünnen Stoff, dann wird einem die der weißen Hose innewohnende Peinlichkeit männlicher Modeabenteuer sofort wieder bewusst.

Auch die intellektuelle Verwurzlung dieser Qualitätszeitung im linken juste milieu wird überdeutlich, wenn beißender Hohn über die Überflussgesellschaft gepaart mit kühlem Spott über das Wohlstandsgefälle sich vereint zu einer ideologie- und globalisierungskritischen Volte, die ihresgleichen sucht:

Um die Hüften ist der Torhüter-Titan etwas fülliger geworden, das ist der Lauf der Welt bei früheren Spitzensportlern. Olli hat jetzt ungefähr die gleiche Figur wie Boris Becker, ein echtes Mannsbild eben. Frauen finden diesen Typus immens attraktiv, weil er so eine Sinnlichkeit und einen großen Appetit aufs Leben ausstrahlt.

Ja, diese Qualitätsblätter sollten wir uns unbedingt erhalten, um Schaden von der Demokratie abzuwenden.

Stilkritik: Die Sommerhose – Der Weißheit letzter Schluss – Leben & Stil – sueddeutsche.de

Apropos Telefonkonferenzen


28 Jun

Jeder, der einmal an einer Telefonkonferenz teilgenommen hat, weiß, wie dabei jede Freude, Leben und Sauerstoff aus dem Raum entweichen.

(Douglas Coupland: Marshall McLuhan. Eine Biographie. Stuttgart 2011, S.132)

Günther Jauch: Das große Missverständnis


27 Jun

Günther Jauch: Polit- oder Unterhaltungsjournalist?

Wann hat man es als Journalist eigentlich „geschafft“? Wenn man eine eigene Talkshow in der ARD angeboten bekommt? Oder wenn das als so relevant erscheint, dass das Nachrichtenmagazin Der Spiegel darüber ein vierseitiges Interview führt? Günther Jauch hat beides geschafft, er hat es also „geschafft“. Wirklich?

Ab dem 11.9.2011 soll der Fernsehjournalist die nach persönlich benannte Polittalkshow „Günther Jauch“ moderieren. Immer sonntags, nach dem „Tatort“. ARD-Spitzen haben ihn im Vorfeld, laut Spiegel, als „Großmeister der journalistischen Unterhaltung“ bezeichnet. Aber das genau ist sein größtes Problem.

Günther Jauch war nie politischer Journalist. Das von ihm moderierte TV-Magazin Stern TV war, bestenfalls, gehobener Boulevard: sensationsheischend, manchmal reißerisch, oft belanglos. Wenn Jauch sich in der Sendung mit Politik befasst hat, war dies ein Kollateralschaden anderer Angriffsziele, nämlich der möglichst großen Emotionalisierung, insbesondere durch Personalisierung aller Geschichten und Themen. Aber wenn Jauch schon kein Politjournalist ist, darf er denn wirklich als Unterhaltungskünstler gelten? Wie unterhaltsam ist Günther Jauch?

In den 80er Jahren fiel er erstmals auf: Als Sidekick in der Radiosendung von Thomas Gottschalk auf Bayern 3. Gottschalk war unterhaltsam, Jauch war der Streber. Im Fernsehen die gleiche Arbeitsteilung: Jauch durfte in „Wetten dass“ Außenwetten moderieren. Der Plauderer im Studio war er nicht. Und sein guter Ruf als Moderator von „Wer wird Millionär“ rührt wohl kaum von seinem Charisma her, das hat er nämlich nicht. Im Gegenteil verbindet er den Charme eines Studienrats (wenn auch eines guten) mit dem trockenen Humor eines Stammtischmitglieds, das aus gesundheitlichen Gründen auf den Genuss alkoholischer Getränke verzichtet.

Vielleicht ist es Ironie der Mediengeschichte, dass die Auftaktsendung ausgerechnet am Jahrestag der Anschläge aufs New Yorker World Trade Center (Nine-Eleven) stattfindet. Für Jauch wird sich der Ausflug in die ARD auf jeden Fall lohnen – immerhin ist er schon im Spiegel interviewt worden. Für die ARD könnte es aber ein Ground Zero werden.

Rechenkünste des Journalismus


20 Jun

Ein prägnantes Beispiel für die Arithmastenie gewisser Journalisten ist bei twitpic zu finden. Es geht, wie häufig in der Zeitung, um Prozentrechnen, das offenbar Redaktionen immer mal wieder überfordert:

Ohne beckmessern zu wollen: „Drei von vier“ sind nicht „jeder dritte Haushalt“. Im einen Fall reden wir nämlich von runden 75 %, im anderen von lediglich 33 %. Auf was schließlich sich die Angabe „schon vier Prozent mehr als 2008“ bezieht, bleibt völlig schleierhaft.

Krank durch Spielekonsolen!


17 Jun

Dass oder ob Computerspiele und Spielekonsolen unerfreuliche gesellschaftliche Auswirkungen haben können, ist ein in der Medienwirkungsforschung heftig umstrittenes Thema. Unstrittig aber ist, dass der häufige Gebrauch von Spielekonsolen krank macht. Die entsprechenden Krankheitsbilder sind sogar in die medizinische Fachliteratur eingegangen. Bereits 1981 beschrieb ein junger englischer Mediziner namens Timothy McCowan im „New England Journal of Medicine“ ein Krankheitsbild, das sich in einer „schmerzhaften Steifheit des Handgelenks“ äußerte. Die Schmerzursache war rasch gefunden:

McCowan hatte einige Abende in einer Spielhalle verbracht, der Schmerz rührte vom schnellen Strecken und Beugen seines Handgelenks und Unterarms beim Spielen von „Space Invaders“. Die Bezeichnung für die Erkrankung lag also nahe: „Space-Invaders“-Handgelenk.

Zu McCowans Zeiten standen Konsolen noch in Spielhallen, der Eintritt war reglementiert und jedes einzelne Spiel kostete Geld. Das waren, was Krankheitsprävention im digitalen Zeitalter angeht, sicherlich brauchbare Maßnahmen. Epidemisch wurden darum Krankheitssymptome durch Computerspiele auch erst, als der japanische Spielehersteller Nintendo mit dem Gameboy die erste Spielekonsole für den Hausgebrauch auf den Markt brachte.

Auf das Konto von Nintendo geht gleich eine ganze Reihe von Konsolen-Krankheiten. Ebenfalls im „New England Journal of Medicine“ beschreibt der Rheumatologe Richard Brasington im Mai 1990 den Nintendo-Daumen, der kurze Zeit später unter dem Begriff Nintendinitis durch die Presse geht. Zunächst beobachtet Brasington das Symptom bei seiner Schwägerin, die mit starken Schmerzen in ihrem Daumen zu ihm kommt, nachdem sie fünf Stunden am Stück mit dem Super Nintendo ihres Sohnes gespielt hatte. Als der Rheumathologe die Krankheit an einem zweiten, ebenfalls erwachsenen, Bekannten beobachtet, schlägt er vor: „Man sollte die Sportverletzung Nintendinitis nennen.“

Das Thema bekam nicht nur in der medizinischen Fachliteratur, sondern weltweit mediale Aufmerksamkeit. Der Spiegel schreibt 1990 zur Markteinführung des Gameboy:

Die Folgen sind absehbar, US-Ärzte haben sie schon bei computerbegeisterten Kindern gefunden: dicke Hornhaut am Daumen, verkrampfte Hand – Diagnose: Nintendinitis.

Der Gameboy inspirierte auch den kanadischen Radiologen David Miller dazu, 1990 im „Canadian Medical Association Journal“ über den „Nintendo-Nacken“ zu schreiben, den er an seinem eigenen Sohn beobachtet haben wollte. Schuld an den Nackenbeschwerden sei laut Miller die ungesunde Haltung beim Spielen gewesen: Kinn auf der Brust, Ellbogen gebeugt, den Monitor nah an sein Gesicht haltend. „Die Schmerzen müssen sehr heftig gewesen sein, weil er tatsächlich das Spiel aufgab und mit seiner Schwester Barbie spielte“, schreibt Miller laut Medien-Monitor.

Die Krankheitsbilder, die durch Spielekonsolen ausgelöst werden, können wie jede Krankheit sehr unterschiedliche Ausprägungen haben. So hat auch die Nintendinitis eine Steigerung erfahren: Die „eiternde Nintendinitis“. Die geht zurück  auf den australischen Kinderarzt Guan Koh aus Thuringowa. Zu dem war, laut Spiegel Online, im Sommer 2000 ein Mädchen mit merkwürdigen Verletzungen in den Handflächen gekommen: Eine 6 mm großes eiterndes Mal mit gerötetem Rand, deren Ursache schnell ermittelt war:

Ihre zwei Cousins sind die Sommerferien über zu Besuch, haben eine Nintendo-64-Konsole mitgebracht. Und sie spielen zu dritt „Mario Party“ – zwei Stunden am Stück. Das Mädchen schlägt mit der Handfläche auf den Joystick. Die Folgen muss Kinderarzt Koh behandeln. Seine Behandlung: 14 Tage Spielverbot und zweimal täglich gewechselte Verbände mit antiseptischer Salbe.

Der Arzt Guan Koh beschreibt die Krankheit im „Medical Journal of Australia“, worauf die „eiternde Nintendinitis“ in die medizinische Forschungsliteratur eingeht. Nicht nur der medizinische Fortschritt, sondern auch der sprachliche wurden durch digitale Spielekonsolen befördert. Zum Beispiel brachten sie uns das erste Wort der Sprachgeschichte ein, das sich mit drei aufeinanderfolgenden „i“ schreibt: Die „akute Wiiitis“. Nachzulesen wiederum im „New England Journal of Medicine“. Dort beschreibt der spanische Arzt Julio Bonis eine Sehnenentzündung in der Schulter, die er sich just an dem Tag zugezogen hatte, an dem er sich eine Wii-Spielekonsole angeschafft hatte.

Die moderne Medizin will den Menschen ja nicht nur als physische Entität, sondern als ganzheitliches soziales Wesen begreifen. Umgekehrt können aber auch in der digitalen Welt Krankheiten durch des Menschen Hang zum Sozialen ausgelöst werden. Jedenfalls beschreibt der neapolitanische Arzt Gennaro D’Amato einen Fall im Fachblatt Lancet, in dem das Profilfoto einer Facebook-Nutzerin einem anderen User dieses sozialen Netzwerks buchstäblich den Atem raubte: Facebook-induziertes Asthma. Computer- und Facebookabstinenz sollen in dem Fall, wie die Süddeutsche Zeitung zu berichten weiß, Abhilfe geschaffen haben.

Laut dem kanadischen Medienphilosophen Marshall McLuhan sind Medien nichts anderes als Extensionen, also Ausdehnungen, unseres Körpers. Dass bestimmte Körperteile mit solchen Ausdehnungen aber nicht immer gut klar kommen, könnten die beschriebenen Spielekonsolensymptomatiken belegen. Aber technik-induzierte Krankheitssymptome sind nicht nur notwendige Begleiterscheinung der technischen Entwicklung. Sie könnten auch selbst eine Folge bestimmter medialer Praktiken sein, die nicht so sehr auf Seiten der Patienten, als vielmehr auf Seiten des medizinischen Personals vorherrschen. Gerade im medizinischen Schrifttum ist es nämlich, wie Konrad Lischka auf Spiegel Online schreibt, durchaus üblich, Krankheitsbeschreibungen zu veröffentlichen, die nur auf einer einzigen Fallgeschichte beruhen und nicht auf langwierigen klinischen Studien als empirischer Basis. Der Arzt und nicht der Kranke macht die Krankheit. In diesem Fall könnte man das auch übersetzen mit: The medium is the massage. Auch das ist, bekanntlich, eine Diagnose von McLuhan.

Münchener Boulevard: Zahlenakrobatik


16 Jun

Verblüffendes bringen die Boulevard-Journalisten der bayerischen Landeshauptstadt München zustande: Von ein und derselben Pressekonferenz berichten und völlig unterschiedliche Zahlen veröffentlichen. Und das auch noch auf den Titelseiten. In unserem Fall geht es darum, dass die Münchener Polizei es für berichtenswert hielt, wieviele Knöllchen sie an Fahrradfahrer allein in den vergangenen 3 Wochen ausgeteilt hat. Die einzige Zahl, die in der tatsächlichen Berichterstattung Münchner Journalisten zu stimmen scheint, ist aber just die Anzahl der Wochen. Den Rest werden wir wohl nie so ganz erfahren, wie man umstandslos verstehen wird, wenn man dieses Bild sieht:

Waren es nun 2.308 Strafzettel, wie die Münchner Abendzeitung meint, oder waren es doch 5.045 Tickets, wie die tz berichtet? Fragen bleiben.

Walter Benjamin: Von der Information zur Sensation


15 Jun

In seinem Aufsatz „Über einige Motive bei Baudelaire“ bietet der Kulturphilosoph Walter Benjamin in einem einzigen Satz eine komplette Geschichte des Journalismus:

Historisch besteht eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Formen der Mitteilung. In der Ablösung der älteren Relation durch die Information, der Information durch die Sensation spiegelt sich die zunehmende Verkümmerung der Erfahrung wider.

Benjamin skizziert hier den Journalismus vor allem des 19. Jahrhunderts, denn mit dem kennt er sich am besten aus. Sein berühmt-berüchtigtes „Passagenwerk“, seine Arbeiten zu Baudelaire, seine „Berliner Kindheit um 1900“: Alles Arbeiten, die seine Verwurzelung und seine Herkunft aus und im 19. Jahrhundert repräsentieren. Auch die zitierte Charakteristik in seinem Baudelaire-Aufsatz bezieht sich vornehmlich auf die französische Presselandschaft des vorvergangenen Jahrhunderts. Dennoch ist seine „Kurz“-Geschichte des Journalismus so aktuell wie furios: „Relation“ nannten sich die ersten periodisch erscheinenden Blätter anfangs des 17. Jahrhunderts, der Geburtsstunde des europäischen Pressewesens. Der Journalismus, der hier entstand, war aber noch kein informationsorientierter, sondern ein korrespondentenorientierter, der publizierte, was eben kam. Und das ware viel Buntes, wenig Überprüfbares, selten Relevantes. Erst der „literarische“ und „wissenschaftliche“ Journalismus des, aufgeklärten, 18. Jahrhunderts (gemäß jener, wiederum umstrittenen, historischen Einteilung von Baumert aus dem Jahr 1928) brachte publizistische Standards, die aus der „Relation“ eben „Information“ machte. Die technologische Entwicklung im frühen 19. Jahrhunderts, mit der Erfindung der Dampfschnellpresse und vor allem der Rotationsmaschine, machte Auflagen möglich, die eine Orientierung am Massengeschmack ihrerseits erst (wirtschaftlich) sinnfällig erscheinen ließen: die Information wird zur Sensation, der Sensationalismus wird geboren. Dass wir diesen Typus von popular paper bis heute auch mit seiner französischen Bezeichnung als Boulevardpresse bezeichnen, kommt nicht von ungefähr. Benjamin hebt aber noch auf etwas Anderes ab: Ihm geht es darum, wie Erfahrungen, ganz alltägliche Erfahrungen medial gespiegelt werden. Dabei setzt er sich insbesondere mit der, zu jener Zeit sehr aktuellen, „Lebensphilosophie“ auseinander, so allerdings, dass er sie beinahe in die Nähe des Faschismus rückt:

Man pflegt diese Vorstöße unter dem Begriff des Lebensphilosophie zu rubrizieren. Sie gingen begreiflicherweise nicht vom Dasein des Menschen in der Gesellschaft aus. Sie beriefen sich auf die Dichtung, lieber auf die Natur und zuletzt vorzugsweise auf das mythische Zeitalter. Diltheys Werk „Das Erlebnis und die Dichtung“ ist eines der frühesten in der Reihe; sie endet mit klages und mit Jung, der sich dem Faschismus verschrieben hat.

Benjamin hält dem den „echten“ Erzähler“ und seinen ganz eigenen Literaturbegriff entgegen, geschult an Bergsons Theorie der Erfahrung und an Marcel Prousts monumentalen Romanwerk „A la recherche du temps perdu“. Vielleicht ist aber Benjamins Diskreditierung der Lebensphilosophie, die er noch vor der eigenen Erfahrung des Nazi-Terrors formulierte, auch überzogen. Immerhin geht die „Lebensphilosophie“ genannte Denkschule auf keinen geringeren als Johann Wolfgang Goethe zurück …

Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, Und grün des Lebens goldner Baum (Faust I, Studierzimmer)

… und hat mit Friedrich Nietzsche einen Ahnherrn, den auch die Vertreter der Frankfurter Schule, zu denen Benjamin im weiteren Kreis zu zählen ist, gerne bemühten. Und die Grundfrage, die sich in der heutigen Mediengesellschaft so dringlich stellt, wie Jahrzehnte zuvor: Müssen wir angesichts einer ausschließlich medialen Repräsentation von Wirklichkeit (Luhmann) nicht das Leben von den Medien zurückerobern? Müssen wir nicht das Leben gegen die Medien ausspielen? Brauchen wir nicht statt einer Medienphilosophie in der Tat eine neue Lebensphilosophie?

Libyen: Wer nicht auf Krieg setzt, kann keinen Frieden machen?


14 Jun

Wer nicht auf Krieg setze, der könne auch keinen Frieden machen. Der Eindruck drängt sich auf, wenn man die Kommentare der deutschen Presse zum Besuch des deutschen Außenministers Guido Westerwelle in Libyen liest. die Nordwest-Zeitung schreibt:

„Nur zu gut ist in Erinnerung, dass es der deutsche Außenminister war, der sich durch Enthaltung im Weltsicherheitsrat ins Abseits stellte und damit Gaddafis Position stärkte. Was weder in der Heimat, noch in Nordafrika sein Ansehen mehrte. Nach Libyen fährt die deutsche Politik derzeit nur auf dem Trittbrett mit.“

Si vis pacem, para bellum? Wenn Du den Frieden willst, rüste zum Krieg? Wer Kriegseinsätzen vorm Völkertribunal nicht zustimmt, unterstützt automatisch Diktatoren? Eine verquere Logik. Und so verquer wie die Logik ist auch der Satzbau: Wessen Ansehen wurde denn nun in Nordafrika geschmälert: Das von Gaddafi oder das von Westerwelle? Oder sind die beiden für die Nordwest-Presse schon eins? Qui vis pacem, prepara linguam – Wenn Du Frieden willst, kümmere Dich erstmal um Deine Sprache!

Auch die Neue Osnabrücker Zeitung bläst ins gleiche Horn:

„Was für ein Pathos, was für ein Hohn. ‚Wir sind nicht neutral, sondern wir stehen an der Seite der Demokratie und der Freiheit‘, tönt Außenminister Westerwelle in Libyens Widerstandshochburg Bengasi. Das klingt so, als hätte Westerwelle persönlich die Stadt vor Wochen vor den Truppen von Diktator Gaddafi gerettet (…). Richtig ist aber, dass seine Gesprächspartner heute tot oder in einem Foltergefängnis sitzen würden, hätte die Welt vor dem Morden weggeschaut, wie es die Bundesregierung getan hat.“

Eine Politik, der nichts anderes einfällt, als Diplomatie durch Militärschläge zu ersetzen, bringt also direktemang Gesprächspartner ins Foltergefängnis! Und wer nicht prompt bombt, der ist sofort ein „Wegschauer“! Da schlägt man doch direkt die Hacken zusammen, wenn die deutsche Presse salutiert. Auch die Saarbrücker Zeitung

In der Stippvisite wird auch das Berliner Bestreben deutlich, wieder politischen Anschluss zu finden nach dem Desaster bei der Libyen-Abstimmung im Weltsicherheitsrat. Immerhin. Aus dem Schneider ist der Minister des Äußeren aber noch lange nicht. Westerwelle hat keinen Plan, er wird nirgendwo so recht ernst genommen.

Dass der deutsche Außenminister nirgendwo so recht ernst genommen würde, mag seine Richtigkeit haben. Aber es hat womöglich andere Gründe. Einem Kriegseinsatz nicht sofort zuzustimmen, muss dagegen kein Desaster sein. Andere Länder mit Bombenteppichen zu überziehen und in sie einzumarschieren, kann allerdings zum Desaster werden. Und nicht nur zum militärischen, sondern auch zum politischen und vor allem zum moralischen. Diese Lehre kann aus dem Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten in den Irak gezogen werden. Ob Bundesaußenminister Westerwelle tatsächlich gerade diese Lehre verstanden hat, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber dass die Kommentatoren der deutschen Tagespresse etwas nicht richtig kapiert haben, scheint mir auf der Hand zu liegen.

Jetzt vermiest EHEC uns auch noch den Müll


09 Jun

Was soll man denn jetzt davon halten:

Bedeutet das, wir dürfen jetzt auch keinen Müll mehr essen?

Anti-Medien-Blog

Die journalistische Notfallpraxis im Web von Hektor Haarkötter