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Krank durch Spielekonsolen!


17 Jun

Dass oder ob Computerspiele und Spielekonsolen unerfreuliche gesellschaftliche Auswirkungen haben können, ist ein in der Medienwirkungsforschung heftig umstrittenes Thema. Unstrittig aber ist, dass der häufige Gebrauch von Spielekonsolen krank macht. Die entsprechenden Krankheitsbilder sind sogar in die medizinische Fachliteratur eingegangen. Bereits 1981 beschrieb ein junger englischer Mediziner namens Timothy McCowan im „New England Journal of Medicine“ ein Krankheitsbild, das sich in einer „schmerzhaften Steifheit des Handgelenks“ äußerte. Die Schmerzursache war rasch gefunden:

McCowan hatte einige Abende in einer Spielhalle verbracht, der Schmerz rührte vom schnellen Strecken und Beugen seines Handgelenks und Unterarms beim Spielen von „Space Invaders“. Die Bezeichnung für die Erkrankung lag also nahe: „Space-Invaders“-Handgelenk.

Zu McCowans Zeiten standen Konsolen noch in Spielhallen, der Eintritt war reglementiert und jedes einzelne Spiel kostete Geld. Das waren, was Krankheitsprävention im digitalen Zeitalter angeht, sicherlich brauchbare Maßnahmen. Epidemisch wurden darum Krankheitssymptome durch Computerspiele auch erst, als der japanische Spielehersteller Nintendo mit dem Gameboy die erste Spielekonsole für den Hausgebrauch auf den Markt brachte.

Auf das Konto von Nintendo geht gleich eine ganze Reihe von Konsolen-Krankheiten. Ebenfalls im „New England Journal of Medicine“ beschreibt der Rheumatologe Richard Brasington im Mai 1990 den Nintendo-Daumen, der kurze Zeit später unter dem Begriff Nintendinitis durch die Presse geht. Zunächst beobachtet Brasington das Symptom bei seiner Schwägerin, die mit starken Schmerzen in ihrem Daumen zu ihm kommt, nachdem sie fünf Stunden am Stück mit dem Super Nintendo ihres Sohnes gespielt hatte. Als der Rheumathologe die Krankheit an einem zweiten, ebenfalls erwachsenen, Bekannten beobachtet, schlägt er vor: „Man sollte die Sportverletzung Nintendinitis nennen.“

Das Thema bekam nicht nur in der medizinischen Fachliteratur, sondern weltweit mediale Aufmerksamkeit. Der Spiegel schreibt 1990 zur Markteinführung des Gameboy:

Die Folgen sind absehbar, US-Ärzte haben sie schon bei computerbegeisterten Kindern gefunden: dicke Hornhaut am Daumen, verkrampfte Hand – Diagnose: Nintendinitis.

Der Gameboy inspirierte auch den kanadischen Radiologen David Miller dazu, 1990 im „Canadian Medical Association Journal“ über den „Nintendo-Nacken“ zu schreiben, den er an seinem eigenen Sohn beobachtet haben wollte. Schuld an den Nackenbeschwerden sei laut Miller die ungesunde Haltung beim Spielen gewesen: Kinn auf der Brust, Ellbogen gebeugt, den Monitor nah an sein Gesicht haltend. „Die Schmerzen müssen sehr heftig gewesen sein, weil er tatsächlich das Spiel aufgab und mit seiner Schwester Barbie spielte“, schreibt Miller laut Medien-Monitor.

Die Krankheitsbilder, die durch Spielekonsolen ausgelöst werden, können wie jede Krankheit sehr unterschiedliche Ausprägungen haben. So hat auch die Nintendinitis eine Steigerung erfahren: Die „eiternde Nintendinitis“. Die geht zurück  auf den australischen Kinderarzt Guan Koh aus Thuringowa. Zu dem war, laut Spiegel Online, im Sommer 2000 ein Mädchen mit merkwürdigen Verletzungen in den Handflächen gekommen: Eine 6 mm großes eiterndes Mal mit gerötetem Rand, deren Ursache schnell ermittelt war:

Ihre zwei Cousins sind die Sommerferien über zu Besuch, haben eine Nintendo-64-Konsole mitgebracht. Und sie spielen zu dritt „Mario Party“ – zwei Stunden am Stück. Das Mädchen schlägt mit der Handfläche auf den Joystick. Die Folgen muss Kinderarzt Koh behandeln. Seine Behandlung: 14 Tage Spielverbot und zweimal täglich gewechselte Verbände mit antiseptischer Salbe.

Der Arzt Guan Koh beschreibt die Krankheit im „Medical Journal of Australia“, worauf die „eiternde Nintendinitis“ in die medizinische Forschungsliteratur eingeht. Nicht nur der medizinische Fortschritt, sondern auch der sprachliche wurden durch digitale Spielekonsolen befördert. Zum Beispiel brachten sie uns das erste Wort der Sprachgeschichte ein, das sich mit drei aufeinanderfolgenden „i“ schreibt: Die „akute Wiiitis“. Nachzulesen wiederum im „New England Journal of Medicine“. Dort beschreibt der spanische Arzt Julio Bonis eine Sehnenentzündung in der Schulter, die er sich just an dem Tag zugezogen hatte, an dem er sich eine Wii-Spielekonsole angeschafft hatte.

Die moderne Medizin will den Menschen ja nicht nur als physische Entität, sondern als ganzheitliches soziales Wesen begreifen. Umgekehrt können aber auch in der digitalen Welt Krankheiten durch des Menschen Hang zum Sozialen ausgelöst werden. Jedenfalls beschreibt der neapolitanische Arzt Gennaro D’Amato einen Fall im Fachblatt Lancet, in dem das Profilfoto einer Facebook-Nutzerin einem anderen User dieses sozialen Netzwerks buchstäblich den Atem raubte: Facebook-induziertes Asthma. Computer- und Facebookabstinenz sollen in dem Fall, wie die Süddeutsche Zeitung zu berichten weiß, Abhilfe geschaffen haben.

Laut dem kanadischen Medienphilosophen Marshall McLuhan sind Medien nichts anderes als Extensionen, also Ausdehnungen, unseres Körpers. Dass bestimmte Körperteile mit solchen Ausdehnungen aber nicht immer gut klar kommen, könnten die beschriebenen Spielekonsolensymptomatiken belegen. Aber technik-induzierte Krankheitssymptome sind nicht nur notwendige Begleiterscheinung der technischen Entwicklung. Sie könnten auch selbst eine Folge bestimmter medialer Praktiken sein, die nicht so sehr auf Seiten der Patienten, als vielmehr auf Seiten des medizinischen Personals vorherrschen. Gerade im medizinischen Schrifttum ist es nämlich, wie Konrad Lischka auf Spiegel Online schreibt, durchaus üblich, Krankheitsbeschreibungen zu veröffentlichen, die nur auf einer einzigen Fallgeschichte beruhen und nicht auf langwierigen klinischen Studien als empirischer Basis. Der Arzt und nicht der Kranke macht die Krankheit. In diesem Fall könnte man das auch übersetzen mit: The medium is the massage. Auch das ist, bekanntlich, eine Diagnose von McLuhan.

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