Archive for Mai 24th, 2011

Das Buch ist dem „E-Book“ haushoch überlegen


24 Mai

Lesen bildet: Aber in welchem Medium?

Es ist mehr als ein Jahrzehnt her, da war ich auf der Computermesse CeBit bei einem Vortrag des damals angesagtesten aller Computer-Gurus, Kai Krause. Dieser sprach ein Loblied auf ein phantastisches Medium, das Terabyte an Informationen bereithalte, gestochen scharfe Grafiken und Bilder darstellen könne und noch dazu ungeheuer flexibel zu handhaben sei. Und dann hielt der Programmierer von „Kai’s Powertools“ oder „SuperGoo“ — ein Buch in die Höhe, ein stinknormales altmodisches Buch.

Visionär war der Guru vielleicht auch mit dieser Performance. Dies scheinen nun Bildungsforscher, laut einem Bericht im Kulturteil der heutigen Süddeutschen Zeitung, empirisch bestätigen zu können. Eine aktuelle Studie des „Computer Supported Collaboration Lab“, einer Einrichtung der Universität von Washington in Seattle lasse Zweifel aufkommen, wie reif das eBook als Lehr- und Lernmittel schon ist. Über ein ganzes Studienjahr hinweg hätten die Forscher 39 Studenten, die von der Universität mit Amazons Kindle DX ausgestattet worden waren, über ihre Lese- und Arbeitsgewohnheiten befragt und zum Führen von Tagebüchern angehalten. Das Ergebnis sei ernüchternd gewesen: Bei Ablauf des Untersuchungszeitraums hätten zwei Drittel der Studenten den Gebrauch des Lesegeräts in ihrem Studienalltag entweder ganz eingestellt, oder auf wenige Situationen, wie zum Beispiel Busfahrten beschränkt. Die besonderen Anforderungen, die das kognitiv anspruchsvolle Lesen im akademischen Umfeld mit sich brächte, könnten die eBook-Reader dagegen kaum erfüllen.

Während das rezeptive Lesen, also die reine, sequenzielle Aufnahme von Text, auf den Lesegeräten recht problemlos funktionierte, stießen die Testpersonen bei ihren individuellen Methoden des sogenannten „reagierenden Lesens“ auf große Hindernisse. Als „reagierendes Lesen“ bezeichnet man die kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Text während des Lesevorgangs. Jeder einzelne Leser kombiniert dafür ganz idiosynkratisch Unterstreichungen, Anmerkungen, Exzerpte, Visualisierungen und Lesezeichen. In der Praxis wechseln die Studenten zudem unablässig zwischen Lesetechniken wie Überfliegen, Querlesen oder Anblättern hin und her. Nur ein Informationsträger, der der Gesamtheit dieser Methoden und dem flexiblen Wechsel zwischen ihnen möglichst optimal gerecht wird, kann den Erfordernissen wissenschaftlicher Arbeit entsprechen.

Ein E-Book erfülle nun offenbar genau diese Voraussetzungen sehr schlecht. Das wirklich substanziellste Problem, das die Untersuchung offenbart habe, läge aber

in der Unfähigkeit der meisten Probanden, ein elektronisches Buch auch nur annähernd ähnlich effektiv im Geiste zu kartographieren, wie es ihnen mit klassischen Büchern gelingt. Informationen in einem Buch findet man intuitiv wieder; man hat sich ihr Auftauchen im Text geografisch eingeprägt: oben rechts oder unten links auf einer Doppelseite, kurz nach einer Illustration oder eine Seite vor dem Kapitelende. Beim Kindle gelang den Probanden all dies nicht.

Der Medienwissenschaftler Marshall McLuhan prophezeite schon in den 60er Jahren das Ende der Gutenberg-Galaxis. Vielleicht hat er ja schlicht geirrt.

Echo auf Eco: Das Internet ist das Universum des Falschen


24 Mai

Umberto Eco

Umberto Eco ist Sprachwissenschaftlern ebenso ein Begriff wie Romanliebhabern: Als Wissenschaftler hat er sich ebenso einen Namen gemacht (in der Semiotik nämlich, die man quasi „seine“ Wissenschaft nennen könnte) wie als Autor von „Der Name der Rose“ und ähnlich eloquenten Erzählwerken (wir lieben ja „Das Foucault’sche Pendel“ meist noch mehr). Nicht alle wissen aber außerhalb des italienischen Sprachraums, dass Eco auch als Journalist ausgewiesen ist. Seit nunmehr Jahrzehnten füllt er die letzte Seite des Nachrichtenmagazins L’Espresso mit seiner Glosse „La busta di Minerva“. In einer der letzten Ausgaben hat er sich (übrigens beileibe nicht zum ersten Mal) mit dem Internet auseinandergesetzt, und zwar kritisch (für Kenner des Italienischen ist hier der Link). In der Zusammenfassung der Süddeutschen Zeitung:

Der Journalist Tommaso Debenedetti, im vergangenen Jahr Mittelpunkt einer Affäre um erfundene Interviews mit Philip Roth, Herta Müller, Gore Vidal und anderen Schriftstellern, hatte offenbar im Namen Umberto Ecos der International Herald Tribune einen Leserbrief geschrieben, in dem er die Nato-Militäraktionen in Libyen scharf kritisierte. Und die Zeitung hatte die Zeilen Anfang April als authentische Wortmeldung Ecos abgedruckt. In denselben Topf warf Eco nun in seiner Kolumne viele andere Internet-Falschmeldungen über ihn und sein Werk. Er habe etwa auf einer katholischen Nachrichtenseite erfahren müssen, dass ein Autor sein Buch mit einem Eco-Vorwort schmücke, das er, Eco, gar nicht verfasst habe.

Quintessenz von Umberto Eco, wiederum in der Übertragung der SZ:

Eco beklagte, dass das Netz ein „anarchisches Territorium“ geworden sei, „wo man alles sagen kann, ohne dementiert werden zu können“.

Eco ist nach Meinung des SZ-Autors viel zu pauschal und oberflächlich in seiner Kritik. Er würde darum in der italienischen Netz-Gemeinde auch mit Hohn und Spott bedacht. Originalton SZ:

Unter italienischen Bloggern sorgte Ecos Lamento für Spott und bissige Reaktionen. In seinem Blog Wittgenstein.it antwortete ihm Adriano Sofris Sohn Luca, der die Online-Zeitung Il Post herausgibt: Die genannten Falschmeldungen hätten ihren Ursprung sämtlich in klassischen Medien. Die Kritik sei zudem Zeichen einer gewissen intellektuellen Oberflächlichkeit.

Die italienischen Netizens als unkritische Apologeten des WWW und einer der bedeutendsten Gelehrten, den Italien im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, ein oberflächlicher und intellektuell minderbemittelter Kritikaster? Da lohnt sich doch, die Italienischkenntnisse zusammenzukramen und mal im Original nachzulesen. Was hat Umberto Eco denn nun wirklich geschrieben? Tatsächlich ist in der Printausgabe der Herald Tribune ein klassischer Leserbrief im Namen von Umberto Eco veröffentlicht worden, mit dem Eco in Wahrheit nichts zu tun hat. So weit, so analog. Autorisieren konnte sich der Fälscher jedoch „usando un mio presunto indirizzo di email aperto da lui stesso con grande facilità“, also indem er mit Leichtigkeit eine (gefälschte) Emailadresse im Namen von Umberto Eco eingerichtet hat, mit der er sich auswies. Auch in Ecos Formulierung über das „anarchistische Territorium“ hat die SZ kurzerhand einen wichtigen Nachsatz weggelassen. Eco schreibt nämlich:

Ormai Internet è divenuto territorio anarchico dove si può dire di tutto senza poter essere smentiti. Però, se è difficile stabilire se una notizia su Internet sia vera, è più prudente supporre che sia falsa.

Inzwischen ist das internet ein anarchistisches Territorium geworden, wo man alles behaupten kann, ohne der Lüge überführt zu werden. Jedoch, wenn es schwierig zu überprüfen ist, ob eine Mitteilung im Internet wahr ist, dann ist es klüger, sie von vornherein für falsch zu halten.

Um Lebensklugheit geht es hier und um einen fast schon Pascal-haften Umgang mit dem Wahrheitswert von Internet-Behauptungen. Auch andernorts setzt die italienische Netzgemeinde sich deutlich differenzierter mit dem neuesten Medium auseinander, als es die SZ-Netzdepeschen-Redaktion wahrhaben möchte. In der Net-Zeitung Linkiesta etwa ist ein Verriß zu lesen, der noch deutlich mehr Verve hat als die medienphilosophischen Betrachtungen von Umberto Eco:

Noi giornalisti capiamo nulla di Internet
(Wir Journalisten verstehen gar nichts vom Internet)

Der Artikel fasst die Ergebnisse einer großangelegten Studie zusammen, die die Columbia School of Journalism kürzlich vorgelegt hat. Sie beschäftigt sich differenziert mit den ökonomischen Möglichkeiten des Journalismus im Internetzeitalter. Differenzierter jedenfalls als die Autoren der Süddeutschen Zeitung.

Anti-Medien-Blog

Die journalistische Notfallpraxis im Web von Hektor Haarkötter