Was hat die Feuilleton-Redaktion der Süddeutschen Zeitung sich eigentlich dabei gedacht, als sie am vergangenen Mittwoch Günter Grass’ Gedicht “Was gesagt werden muss” veröffentlicht hat? Wir werden es nicht erfahren, weil sie es uns nicht mitteilt. Die italienische Tageszeitung La Repubblica, die den Text zeitgleich ebenfalls veröffentlichte, hat ihn mit einer zwei-seitigen kritischen Auseinandersetzung begleitet. In der SZ: Fehlanzeige. Dort erschien das skandalumwitterte Gedicht kommentarlos. Erst am folgenden Tag, nachdem jene “heilige Scheiße” über den deutschen Literaturnobelpreisträger hereingebrochen ist, die im aktuellen Social-Media-Jargon als “shitstorm” bezeichnet wird, sah sich Feuilleton-Chef Thomas Steinfeld veranlasst, sich zu dem Text zu äußern:
In der Sache wird man Günter Grass an vielen Punkten widersprechen. Bis zu einem israelischen „Erstschlag“, also zu einem initialen Angriff der Israelis mit Atomwaffen, reichen bislang selbst die schwärzesten politischen Phantasien nicht, ebenso wenig scheint ein „Auslöschen“ des iranischen Volks (Günter Grass wird dieses Wort gewählt haben, weil darin der Holocaust anklingt) anzustehen.
Wenn der SZ-Mann widersprechen will, warum veröffentlicht er dann? Wenn er für halt- und nutzlos hält, was Grass hier als lyrische Empfindsamkeit tarnt, warum lässt er es dann unkommentiert auf breitem Raum in seiner Zeitung erscheinen? Darauf hätte man gerne Antworten. Solange die ausbleiben, darf man spekulieren: Dass hier eine Redaktion einen “scoop” witterte, dass man die eigenen Auflage- und Verkaufszahlen gerne mit allem fördert, und sei es auch Antisemitismus und Holocaust. Eine Grass’sche Behauptung widerlegt die SZ durch die schlichte Veröffentlichung des Pamphlets: Dass es in Deutschland irgendwelche Sprech- oder Publikationsverbote gäbe. Und schon allein diese Position von Grass (wenn auch sonst keine), sollte einen doch wundern machen: die Inanspruchnahme eines vorgeblichen Denk- und Sprechverbots (O-Ton Grass: “Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes”), insbesondere was Kritik am Staat Israel angeht. Denn ein solches “Verbot” wird doch quer durch die bundesrepublikanische Debatten-Geschichte widerlegt. Im Gegenteil ist Israel-Kritik einer der Allgemeinplätze in der deutschen Öffentlichkeit, und in ihr verbinden sich auf fatale Weise die Positionen der rechts- wie der linksextremen, von der NPD bis zur RAF. Grass’ Behauptung ist also eine rein rhetorische, und diese Rhetorik teilt er traurigerweise mit den Sarrazins und Schönhubers dieses Landes, die regelmäßig vermeintliche Mehrheitsmeinungen mit angeblichen Sprechverboten garnieren (“man wird doch wohl noch sagen dürfen …”).
Ich möchte mich hier ausdrücklich den Worten des geschätzten Schriftstellers Joachim Helfer anschließen, der zur Causa Grass und im besonderen zur veröffentlichten Meinung des Journalisten Jakob Augstein schrieb:
Der Frieden zwischen Israel und dem Iran wird nicht durch Israels Nuklearwaffen bedroht, und zwar einfach deshalb nicht, weil es nie die Waffen sind, die den Frieden bedrohen, sondern die Menschen und ihre Handlungen und Absichten. Nicht dass es Atomwaffen gibt bedroht den Weltfrieden; vielmehr spricht vieles dafür, dass ihre Existenz es ist, die uns in Europa seit 1945 einigermaßen in Frieden hat leben lassen. Den Frieden bedroht, wer Andere bedroht, und wer die legitimen Rechte Anderer in Abrede stellt. Israel stellt keines der Rechte des Iran in Abrede; Iran bestreitet im Gegenzug das Existenzrecht Israels. Das, und nur das, bedroht den Frieden in der Region. Kein Staat der Welt kann es hinnehmen, dass einerseits seine schiere Existenz vernichtet werden soll, und dass andererseits diejenigen, die das verlangen, sich die dafür tauglichen Mittel, nämlich die Atombombe, besorgen. (…) Es geht Ihnen, pünktlich zu Pessach, um die Verhetzung der Juden als Wurzel des Übels in der Welt. Sie ekeln mich an.
SZ-Feuilletonchef Steinfeld kritisiert in seinem Text (der interessanterweise auf der Grass-Themenseite bei SZ-Online nicht zu finden ist) die Grass’sche Durchsichtigkeit und den Rückzug auf ein lyrisches Ich:
Gewiss, der Ton der sich in Gewissensqualen marternden Unschuld, den Günter Grass in seinem Gedicht „Was gesagt werden muss“ anschlägt, der ganze, so sorgfältig inszenierte Schmerzensschrei eines geschundenen Liebhabers des Weltfriedens hat etwas Gekünsteltes.
Er ist ebenso illusorisch wie der Gedanke, man könne in Gestalt von Gedichten – mit oder ohne Mandat – über die Weltpolitik verfügen. Und allzu durchsichtig ist die Funktion, die hier der lyrischen Form übertragen wird: Sie dient dazu, den Schriftsteller der Kritik zu entziehen. Indem er sich – scheinbar – nach innen wendet und sein Innerstes nach außen kehrt, in dem er, vor und anstatt einer politischen Auseinandersetzung, als lyrische Empfindsamkeit auftritt, will er einen Standpunkt über allen anderen einnehmen und sich unangreifbar machen. An der Empfindsamkeit sollen alle Einwände zugrunde gehen.
Man könnte auch sagen: Mehr fällt Steinfeld dazu nicht ein?! Nein, mehr darf ihm nicht einfallen, denn würde er zu dem Grass-Gedicht deutlichere Worte schreiben, würde er die Veröffentlichungspraxis seiner eigenen Redaktion als das diffamieren, was sie ist: Bigotterie. Es handelt sich beim Grass-Gedicht “Was gesagt werden muss” nicht um einen Literatur-, sondern um einen Presseskandal.
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