In 80 Fehlern um die “Welt”

20 Apr

Wenn JournalistInnen Zahlen verwenden, ist stets größte Vorsicht angebracht: In den allermeisten Fällen, in denen in Zeitungen und Fernsehnachrichten mit Zahlen jongliert wird, sind die Angaben falsch, missverständlich oder unvollständig. Das gilt im übrigen auch für sogenannte Qualitätsmedien. Überraschend war aber doch die Anzahl an Fehlern, die mir begegneten, als mir eine nette Bahn-Bedienstete im ICE eine Ausgabe von “Die Welt aktuell” in die Hand drückte. Da fand ich beispielsweise folgendes:

Welt-Statistik02

Nichts lieben Zeitungsjournalisten mehr als Zahlen. Wahlergebnisse, Statistiken, Meinungsumfragen, der Prozentsatz der Ostdeutschen mit krummen Füßen, Gewichte und Maße insbesondere von Frauenleibern, die Länge männlicher Geschlechtsteile, die jährlichen Durchschnittszahlen von Geschlechtsverkehren, Mordtaten oder dem Verzehr von Sacherschnittchen außerhalb Wiens und die kommagenaue Bezifferung des Elends der Welt, all das entnehmen wir täglich der Zeitung.

Zahlen haben zwei für JournalistInnen äußerst praktische Vorteile: Sie wirken einerseits exakt und spiegeln eine Recherche vor, die in Wahrheit selten stattgefunden hat, und sie sind andererseits kurz und knapp, lassen sich in Überschriften packen oder zu bunten Grafiken verarbeiten. Nun weiß die Medienforschung schon lange, dass Leser große Schwierigkeiten haben, etwa Prozentangaben überhaupt nachzuvollziehen. Der Mathematikschwäche des gemeinen Medienkonsumenten steht aber eine ebenso ausgeprägte Dyskalkulie des gemeinen Zeitungsredakteurs oder der Zeitungsredakteurin gegenüber. Größte Skepsis ist darum angebracht, wenn in Zeitungen mit Zahlen operiert wird: sie stimmen nicht. Wolf Schneider, ehemaliger Leiter der Hamburger Henri Nannen-Schule stellt fest, „drei von vier Zahlen also sind entweder falsch oder irreführend oder fragwürdig oder unzulässig oder läppisch“.

So auch die “Statistik des Tages” in der “Welt aktuell”: Weder erfährt man, wieviele Leute eigentlich befragt wurden (also die Stichprobe), noch auf welche Bezugsgruppe hier denn nun hochgerechnet werden soll (StatistikerInnen sprechen hier von der “Grundgesamtheit”): Alle Bundesbürger, alle Steuerzahler, alle Erwachsenen? Problematisch ist auch die in eine Hypothese gekleidete Frage: “Ich fühle mich zu hoch besteuert” – eine hoch insinuente Behauptung, denn mal ehrlich: Wer wollte sie verneinen? Gänzlich fragwürdig wird die “Statistik des Tages”, wenn man sich die Quellenangabe ansieht: “Forsa für ‘Stern’”. Ein Umfrageinstitut unternimmt also eine Umfrage für ein Magazin, die dann von einer Tageszeitung weiterverbreitet wird. Das ist “Stille Post”-Prinzip, bei dem nicht verwundern kann, wenn dringend benötigte Informationen auf der Strecke bleiben.

Ein weiterer typischer Fehler bei Statistiken in Zeitungen ist das Verschweigen der statistischen Fehlerwahrscheinlichkeit. Beim Hochrechnen von einer Stichprobe auf eine Grundgesamtheit sind Fehler nämlich gar nicht auszuschließen. Nehmen wir Wahlprognosen: Wenn ich tausend Menschen in Nordrhein-Westfalen zufällig auswähle und danach befrage, wie sie bei der kommenden Landtagswahl abstimmen wollen, gibt es eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass ich zufällig 999 Anhänger der FDP oder auch der Piratenpartei erwische. Der Statistikprofessor Fritz Ulmer hat sich mit den Pleiten, Pech und Pannen bei Wahlprognosen auf seinem ”Grabmal für die unbekannte Fehlprognose” ausführlich auseinandergesetzt. Grundsätzlich kann man festhalten, dass Wahlprognosen eine Schwankungsbreite von 2 bis 4 Prozent haben. Sagt also eine Prognose für die CDU ein Ergebnis von 45% voraus, so kann das ebenso gut 41% wie 49% bedeuten. Und auch diese Prognose hat nur eine Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent! Tatsächlich hat das Umfrageinstitut Emnid genau eine solche Prognose unter Angabe der Fehlertoleranzen notariell beglaubigen lassen:

Quelle: wahlprognosen-info.de

Wie löst die “Welt aktuell” diese Probleme? Gar nicht:

Welt-Statistik03

Hier erfahren Leserinnen und Leser unter der Überschrift “Umfrage” noch nicht einmal, wer eigentlich gefragt wurde, wie die Frage lautete, von der Angabe von Fehlerwahrscheinlichkeiten ganz zu schweigen. Genau so gut könnte man veröffentlichen, dass die “Piratenpartei” 9% oder vielleicht sogar 17% macht – alles statistisch fast ebenso wahrscheinlich. Eine solche “Umfrage” ist schlicht unbrauchbar, ihr Informationswert ist gleich null.

Dieser Umgang mit Zahlen und Statistiken zieht sich in der “Welt aktuell” durch das gesamte Blatt:

Welt-Statistik04

Auch bei den scheinbar so bibeltreuen US-Amerikanern bleibt fraglich: Wie viele von ihnen wurden eigentlich befragt? Wer hat die Umfrage gemacht und wer in Auftrag gegeben? Einmal ist von “US-Haushalten” die Rede, im nächsten Satz dann aber von “Prozent der Amerikaner”. Das sind alles Zahlen, die nichts sagen. Die “Zahl des Tages” ist eigentlich eine “Unzahl”.

Blättern wir ein wenig weiter in “Welt aktuell”:

Welt-Statistik05

Ein wirklich windiger Artikel: 28.000 neue Unternehmen sollen also “mit der Hilfe von Diensten des Internetriesen Google” entstanden sein. Was bedeutet das denn? Wenn ich eine Eisdiele gründe und im Internet die Eiskugelpreise der Konkurrenz recherchiere, habe ich dann auch ein Unternehmen “mit Hilfe von Diensten des Internetriesen Google” gegründet? Auf diese Weise kann man natürlich große Zahlen produzieren, vor allem, wenn die Studie “im Auftrag von Google Deutschland” vorgenommen wurde. Und von wem wurde sie vorgenommen: Da wird das “Institut der Deutschen Wirtschaft” (IW) erwähnt. Wenige Zeilen später dann eine IW Köln Consult GmbH: Handelt es sich um denselben Verein, einen Ableger, eine unabhängige Tochterfirma oder eine mit dem IW verfeindete Ausgründung? In der nächsten Spalte wird dann auf einmal eine “ZEW” abgekürzte Organisation ins Spiel gebracht: Wer das ist und was die mit den Google-Zahlen zu tun haben, bleibt unergründlich. Schließlich sollten Zahlen stets auf den ersten Blick einer Plausibilitätsprüfung unterzogen werden: Stimmt es eigentlich, dass in Deutschland im Jahr “ungefähr 200.000 neue Unternehmen” gegründet werden, wie der Artikel behauptet? Da hätten die “Welt”-RedakteurInnen nur mal ins eigene (Online-) Archiv gucken müssen. Hier ist zu lesen, dass laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2010 (letztes Berichtsjahr) in Deutschland 149.000 Unternehmen von größerer wirtschaftlicher Bedeutung gegründet wurden. Zusätzlich

wurden außerdem rund 305.000 Kleinunternehmen (plus 4,2 Prozent) und knapp 265.000 Nebenerwerbsbetriebe (minus 1,5 Prozent) gegründet.

Das macht 719.000 Unternehmensgründungen im Jahr 2010, einem Jahr mit rückläufiger Wirtschaftsentwicklung. Man darf plausiblerweise davon ausgehen, dass im Boom-Jahr 2011 eher mehr Unternehmen gegründet wurden. Von den Angaben in dem Artikel aus “Welt aktuell” sind diese Zahlen alle weit entfernt.

Das Ärgernis über “Welt aktuell” vergrößert sich noch dadurch, dass die Artikel fast durchweg keine Quellen- oder AutorInnen-Angaben aufweisen. Redaktionelle Transparenz und damit ein Qualitätskriterium für Journalismus sieht anders aus.

Weiterflüstern ...Share on Facebook0Tweet about this on TwitterShare on Google+0Share on Tumblr0Email this to someonePrint this page

Tags: , , , , ,

11 Responses

  1. Joachim sagt:

    Sie weisen völlig zu Recht darauf hin, dass die Ergebnisse von Umfragen fehlerbehaftet sind, wenn die Stichprobe die Grundgesamtheit nicht hinreichend gut repräsentiert.

    Fehler können aus rein mathematischer Sicht vor allem entstehen, wenn die Stichprobe zu klein ist, oder, wenn sie nicht gut gezogen wurde.

    Letzteres vermute ich bei den Zahlen, die gern um Festtage herum veröffentlicht werden und darauf hinweisen, dass ein großer Anteil der Arbeitnehmer in der Freizeit und sogar an Festtagen für den Chef erreichbar sein müssen und Firmen-E-Mails lesen. Für diese Statistiken werden offenbar kaum Bäckereifachverkäuferinnen oder Fließbandarbeiter befragt.

    In Ihrem Artikel gehen Sie aber zu wenig auf Messfehler ein, also auf die Frage, wie weit die Ergebnisse der statistischen Erhebung von den wahren Werten innerhalb der Stichprobe abweichen.

    Wie z.B. hat die Amerikanische Bibelgesellschaft herausgefunden, wie viele Bibeln es pro Haushalt gibt? Bei einer Befragung am Telefon werden einige der Befragten bewusst oder unbewusst falsche Angaben machen – die reale Zahl von Bibeln pro Haushalt wird vermutlich geringer liegen als die, die sich direkt aus der Umfrage errechnet.

    Unrichtige Angaben werden auch bei Wahlumfragen gemacht.

    Statistiker versuchen natürlich, diese Messfehler herauszurechnen. Gerade bei Wahlumfragen kann man aus Vergleichen mit früheren Wahlumfragen und darauf folgenden realen Wahlergebnissen Korrekturfaktoren errechnen.

    Allerdings werden diese Korrekturfaktoren nur selten veröffentlicht.

    • hektor sagt:

      Vielen Dank für die kenntnisreichen Bemerkungen. Ich kann Ihnen nur recht geben: Problematisch bei den meisten dieser Umfragen ist ja, dass nicht quotierte Verfahren verwendet werden, sondern das Lotterieprinzip (ich entnehme Ihren Ausführungen, dass Sie sich auskennen und spare mir darum weitere Erklärungen). In der empirischen Sozialforschung kennt man ja zudem die „Intervieweffekte“ wie zum Beispiel die Tendenz zur Mitte oder den Effekt sozialer Erwünschtheit (weswegen z.B. rechtsextreme Parteien in Umfragen nie so gut abschneiden wie bei den Abstimmungen selbst — vgl. aktuell das Abschneiden von Marie Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich). Die Messfehlerkorrekturen, die Sie erwähnen, werden bspw. bei Wahlumfragen die „Gewichtung“ genannt und können sich auf bis zu 10% belaufen. So wird die Grande Dame der deutschen Sozialforschung Elisabeth Noelle-Neumann mit den Worten zitiert, Umfrageergebnisse seien doch gar nicht so wichtig, entscheidend sei, was man damit mache. Quintessenz bleibt, dass solche Umfrageergebnisse journalistisch ziemlich wertlos sind (was wiederum die Umfragewerte zu den zurückliegenden französischen Wahlen recht deutlich zeigen).

    • Lustig finde ich bei der „Zahl des Tages“ vor allem die letztendliche Aussage: „Die Amerikanische Bibelgesellschaft hat herausgefunden, dass die Amerikaner sehr viel Wert auf ihre Bibel legen.“ Was für eine Überraschung! Ob die Ergebnisse wohl anders ausgefallen wären, wenn die Studie von einer unabhängigen Instanz durchgeführt worden wäre? Dass Zeitungen sogar solche offensichtlichen Interessenkonflikte oft komplett ignorieren, ist schon bemerkenswert.

  2. Fehler werden schlecht bekämpft sagt:

    Geh auf news.google. Such Dir ein paar Artikel aus und klick auf „ausgeblendete Ergebnisse anzeigen.“ . Ein Großteil ist nur von Agenturen per „stiller Post“ wie Du es im Text nennst.
    Tageszeitungen können nicht alles recherchieren, daher sind Agenturmeldungen die quasi 1:1 durchgereicht werden in Print seit Jahrzehnten oder noch viel länger üblich. Als Quelle steht dann ja auch „(dpa)“ o.ä. dran.

    Print ist teuer. Also sind dort Verkürzungen hinzunehmen. Es wäre aber journalistischer Anstand, wenn dieselben Berichte Online oder in der E-Ausgabe fürs iPad, Laptop oder Kindle ausführlicher wären und „so wie mans in der Schule richtig gelernt hat“ alle Quellen korrekt verlinkt werden. Ein gutes CMS liefert sowas. Print ist dann nur die „Trockenmilch-Pulver“-Version vom korrekten Artikel.

    Wegen google+, Robo-Reporter-Tools o.ä. wird ja befürchtet, das jeder bald unterschiedliche News-Artikel zum selben Thema bekommt. Du hättest den vollständigen Artikel mit korrekten Quellen. Linke, Neoliberale und Rechte jeweils eine in Lieblings-Farbe gefärbte Version eines Artikels. So wie jeder Salz, Pfeffer, Chili, Zucker,… bei seinem Essen selber nachwürzen kann.

    Preisdruck macht Qualitätsdruck. Viele Texte werden von zu vielen ständig wiederholt publiziert. Weniger Reporter müssten weniger Angst vor Entlassung haben und könnten viel freier und korrekter berichten anstatt nur hinterherzuberichten wenn Politik mal wieder die nächste Krise verschlafen hat. Die Qualitätserosion beginnt in vielen Medien schon bei den Politik-Berichten die in Herausgeber-Farbe gefärbt sind. Die Presse erfüllt ihre Kontrollpflicht am Staat nicht, der Staat seine Kontrollpflicht an der Presse nicht… .

    In einem Land ohne Abmahnungen hätte ich längst sowas wie Bildblog-2 aber für alle Medien gegründet wo man solche Fehler melden und (getrennt nach Anonym, Internetter mit Anmeldung OpenID Facebook oder Twitter oder sowas) und natürlich Presseausweis-Inhabern bevoten könnte. Durch das Entgegenhalten des Spiegels in Verbindung mit Spieltheorie und Metriken und Top10-Fehler-Zeitschriften und ihrer Werbekunden o.ä. könnte man eine Konversion auf sinnvolle Berichterstattung bewirken und Qualitätsmotivation stärken. Reporter die dann endlich mal Rechtschreibprüfungen machen oder über Formulierungen nachdenken, fangen dann auch an Inhalte zu hinterfragen oder sorgen bei den Agenturen das diese werthaltigere Infos liefern wodurch die PR-Abteilungen (z.B. übliche Sommerloch-Meldungen wie „Schokolade macht schlank“) klarer kommunizieren müssen weil man stattdessen lieber bessere Themen berichtet. Programmiert ist sowas schnell. Abgemahnt vielleicht noch schneller.

    Es ist ja nicht so, das die Presse weniger wird weil die Qualität schlechter wird. Sondern weil die Aufmerksamkeitsminuten auf Online-Medien abwandern wie schon damals zu Radio und dann zu TV. Wer sowas kauft dem ist es egal oder er weiss die Qualität einzuschätzen aber muss die Lokalzeitung oder Fach-Zeitschrift abonnieren um informiert zu sein und lebt dann halt mit den qualitativ verbesserungswürdigen Teilen wo Desinformation sich breit machen kann.
    Zeitungen&Zeitschriften sind eine Mischkalkulation aus Werbung und Kauf/Abopreis. Aber auch eine Mischung aus Artikeln diverser qualitativer Couleur und da ist es für einen Verleger oft sehr einfach 1-5 Seiten für die eigene politische Meinung und Denkweise unterzubringen. Teilweise kaufen die Leser dann vielleicht sogar diese Zeitung eher deshalb weil sie politisch ähnlich zu denken vorgibt oder es auch tut. Gefärbte Artikel färben aber möglicherweise auf andere Segmente ab und ziehen die Qualität herunter.

    Viele Leser wachen erst auf, wenn Spiegel, Stern, Zeitschrift XY einen Artikel über ihre eigene Branche oder Dinge welche sie selber kennen geschrieben hat. Ob die meisten die Transferleistung schaffen „die anderen Artikel sind also ähnlich schlecht oder vereinfachend recherchiert, was soll ich überhaupt noch glauben und wieso macht keiner was dagegen“ ist fraglich. Gute Printkunden werden das dann aber oft vielleicht nicht mehr. Aber auch die haben z.b. als Vereinsmitglieder ADAC-Magazin, Krankenkassen-Magazin, Stromversorger-Magazin, Gewerkschafts-Zeitschrift… und die zwei kostenlosen Zeitungen jede Woche Mi+Sa im Briefkasten und glauben arglos vielleicht auf Dauer zu viel was dort drin steht.

    Die Auftraggeber von Umfragen haben Interessen und zu präzise Wahlergebnisse sind evtl. unerwünscht. Man müsste 10%-20% der Umfrage-Kosten als Sicherheitspauschale einbehalten und die prozentualen Fehler irgendwie verrechnen (Fehlerquadrat-Summe o.ä.) und entsprechend nicht alles auszahlen. Schwupp wären die Vorhersagen evtl. zutreffender. Gleiches für Wirtschaftsweisen-Vorhersagen. Politiker suchen sich in den hunderten von Seiten eh nur die Aussagen die denen passen und nutzen sie dann für sich.
    Man könnte als Internet-Society evtl. selber Umfragen organisieren deren Ergebnisse präziser sind. Digiges, Piraten, FSF usw. scheinen leider wenig interessiert. So eine Handy-App ist schnell geschrieben und damit würde ich alle Umfragen gegenchecken und „der Standard“ in der „Szene“ werden wie Wikipedia o.ä. . Facebook oder Twitter könnten das sehr gut und noch viel besser. Anonyme Bezahlvoter, Robo-Voter o.ä. würde man damit auch eindämmen oder in separaten Tabelle zählen.

    • hektor sagt:

      Vielen Dank für die sehr interessanten Ausführungen.
      In dem Zusammenhang wäre noch die „Determinations-Hypothese“ zu erwähnen: Die Kommunikationswissenschaftlerin Barbara Baerns hatte in ihrer Studie „Öffentlichkeitsarbeit oder Journalismus“ festgestellt, dass Agenturen PR-Material zu 75% noch am gleichen Tag veröffentlichen und diese PR-Meldungen in den Tageszeitungen fast wortgleich übernommen werden. Es gab Ende der 90er Jahre mal den ernsthaften Vorschlag, eine „Stiftung Medientest“ einzuführen, insbesondere da die Landesmedienanstalten und die Rundfunkräte der öffentl.-rechtlichen Sender ihre Kontrollfunktion nur sehr eingeschränkt wahrnehmen. Vielleicht sollte man auf diesen Vorschlag mal zurückkommen …

      • Fehler werden schlecht bekämpft sagt:

        Viele Freie Reporter müssen ja auch PR-Texte schreiben um über die Runden zu kommen. Auch weiss man ja, was Reporter brauchen, so das es eigentlich klar ist, das man denen möglichst mundgerechte Texte liefert damit sie wenig Arbeit haben und nicht alles selber recherchieren müssen. Korrekte Berichte kämen auch mit 10% kritischen oder hinterfragenden oder kommentierenden Ergänzungen aus selbst wenn 90% der Texte und 100% der Bilder aus der Pressemappe vom Unternehmen stammen. Man muss ja nur Konkurrenz oder frühere Fehler erwähnen oder bei Kinofilmen objektiv kommentieren auch wenn man dann vielleicht keine Einladungen zu Presseterminen mehr bekommt. Man müsste mal die Texte „technischer“ Redaktionen (ct, t3n, Audio Video Photo,…) mit denen von Allgemein-Presse (Welt, Welt am Sonntag, …) zum gleichen Produkt vergleichen und sehen wie unterschiedlich werthaltige Berichte aus denselben Pressemappen/Pressevorstellungen entstehen. Galaxy S3, Ipad4, VW Golf-9,… bieten sich an weil breitflächig berichtet wird. Von wann die Studie war, stand da leider nicht. Die Schnelligkeit der Durchreichung liegt ja an elektronischen Hilfsmitteln. Wenn man Fach-News-Sites (meedia , dwdl oder golem vs. heise) täglich ansieht, sind die Themen auch überschneidend. Man muss also schnell berichten weil sonst der Konkurrent den Klick kriegt und man aus dem Thema deutlich weniger Klicks generieren kann, wenn man erst drei Tage später berichtet. Und wenn man Sportberichte sofort durchreicht ist es auch nicht „böse“, wenn PR-Meldungen auch zeitnah erscheinen. Das eigentliche Problem war m.E. das die keine Leute „anrufen“ und Feedback einholen bzw. (Quelle evtl Telepolis aber ich bin nicht sicher) das die Reporter heute gar keinen mehr kennen den sie um Kommentar fragen können. Zusätzlich kommt der Zeitdruck. Und schon werden Jubel-PR-Meldungen unreflektiert durchgereicht was früher oder später auch die Leser merken. Man könnte Artikel oder Teile davon den interessierten Print-Abonnenten zufällig selektiert vorzeitig elektronisch zukommen lassen und Feedback einholen und dann noch mal drüberbürsten bevor es in Print geht. Das macht zwar niemand den ich kenne, aber Anette Novak von ‚Norran‘ nutzt zumindest einen offenen Newsroom und der schwedischen Regionalzeitung geht es besser.

        Wegen „Stiftung Medientest“: Diese Presse-Rügen kann man ja jetzt wohl auch online beantragen. Das führte glaube ich zu erhöhter Fall-Zahl (wie überraschend…). Man kann es groß aufbauen mit vielen Pöstchen und Budgets und Personal und Aufsichtsräten und ständigen Treffen mit Bewirtung und Übernachtung und ständigen Pressekonferenzen in den größten Hotelsälen die man kriegen kann usw.. Ich würde es aber wikimäßig viel kleiner und selbst-organisiert (evtl werbefinanziert) aufbauen und nur offensichtliche Fehler sammeln dokumentieren: Tippfehler, Schlechte Formulierungen, absichtlich unklare Formulierungen, wieder aufgewärmte Bilder die schon 10 Jahre alt sind, Texte die man wiederholt nutzt (was ich ok finde, wenn es Erläuterungen sind und sie z.b. in einem separaten Erläuterungs-Kasten oder erkennbar abgesetzt vom eigentlichen News-Artikel stehen). Das sollte schnell und einfach gehen und ständig funktionieren und keine „jahrelangen“ „Schauprozesse“ mit hier und da mal einzelnen „Ermahnungen“ o.ä. . Da man es ohne relevanten Aufwand weltweit für alle Länder nutzen kann, sollten die Werbe-Einnahmen für eine Person locker ausreichen. Viel mehr bräuchte man dafür nicht, denn den Rest kann man sich inzwischen per Internet überwiegend günstig organisieren.

        Den gesellschaftlichen Schaden durch Qualitätserosion und Desinformation erkennen halt wohl leider die Wenigsten. Also kümmerts keinen.

        Anmerkungen zur Antwort 23. April 2012 um 20:08 an oohpps: Mich würde nicht wundern wenn diese Texte in diversen Welt-Publikationen oder gar Verlags-Weit zeitnah oder als Weiterverwertung auch noch auftauchen würden.
        Man könnte z.b. vielleicht den Bibel-Bericht suchen indem man bei news-Google (sieht aus wie Google-Websuche ist aber etwas anders. Bitte immer beachten auch wenn es optisch fast gleich wirkt) z.b. nach „4,3 47%“ und vielleicht „4,3 47% Haushalte“ oder Worten wie Bibel/Bibeln/US-Haushalte/US-Haushalt/… usw. sucht. Auch im Sommer werden Meldungen gerne wieder aufgekocht.

  3. oohpss sagt:

    Na hoffentlich gibt es ein Dankeschön von der Axel-Springer-Journalisten-Schule.
    Auch wenn alle Hinweise stimmen, sollte als ergänzende Information bekannt gemacht werden, dass es sich bei der Welt kompakt um eine Schülerzeitung handelt:
    „Als Volontariat Zeitung fungiert WELT KOMPAKT, der einzigen Zeitung Europas, die von einer Journalistenschule herausgegeben wird.“
    (Quelle: http://www.axel-springer-akademie.de/info/volontariat-zeitung.html)

    Das erklärt möglicherweise die Vielzahl der Mängel.
    Und ist dann möglicherweise auch ein Hinwesi auf die frühere Lehranstalt, wenn gestandene Journalisten auch heute noch diese Fehler machen.

    • hektor sagt:

      Hallo Oohpss, danke für den Hinweis. Er scheint aber nicht ganz richtig. Erstens ist eine Zeitung, für die VolontärInnen vorwiegend oder gelegentlich schreiben, deswegen noch keine „Schülerzeitung“: Mit dem Begriff meinen wir in der Regel etwas Anderes. Im übrigen handelte es sich bei dem Blatt, das mir in die Hände fiel, nicht um die „Welt kompakt“, sondern um „Welt aktuell“. Das ist ein Nachrichtenblatt, das wohl extra für Lufthansa- und BahnkundInnen hergestellt wird: http://www.welt.de/services/article7775280/DIE-WELT-AKTUELL.html.

  4. Michael sagt:

    Wer noch mehr dazu erfahren will, wie Medien, Politiker u.a. „kreativ“ mit Zahlen und Statistiken umgehen, dem empfehle ich das Buch „Proofiness“ von Charles Seife (leider noch nicht in deutscher Sprache erschienen, und an dieser Empfehlung verdiene ich auch nichts).

  5. […] Hektor: In 80 Fehlern um die „Welt“. Antimedien. URL: http://www.antimedien.de/in-80-fehlern-um-die-welt/ . (Stand: 20.04.2012; abgerufen am: 07.12.2014, 18:27 […]

Leave a Reply to hektor

Loading Facebook Comments ...

Anti-Medien-Blog

Die journalistische Notfallpraxis im Web von Hektor Haarkötter